DeMello: Etiketten


Das Entscheidende ist nicht, zu wissen, wer „ICH” ist oder was „ICH” ist. Das wird dir nie gelingen. Dafür gibt es keine Worte. Das Entscheidende ist, die Etiketten fallenzulassen.

Wie der japanische Zen-Meister sagt: „Suche nicht die Wahrheit, lass einfach deine Meinungen fallen.” Lass deine Theorien fallen, such nicht die Wahrheit. Wahrheit ist nichts, das du suchen könntest. Wenn du aufhörst, Meinungen zu haben [being opinionated], würdest du wissen. Etwas Ähnliches passiert hier.

Wenn du deine Etiketten fallen ließest, würdest du wissen. Was verstehe ich unter Etiketten? Jedes Etikett, dass du dir vorstellen kannst, ausgenommen allenfalls „menschliches Wesen”. Ich bin ein menschliches Wesen. Das ist einigermaßen fair, besagt nicht sonderlich viel.

Aber wenn du sagst: „Ich bin erfolgreich” — das ist verrückt. Erfolg ist etwas, das kommt und geht, es könnte heute hier sein und morgen verschwunden. Als du sagtest: „Ich war ein Erfolg”, warst du im Irrtum, du warst in Dunkelheit getaucht.

Dasselbe, als du sagtest: „Ich bin ein Fehlschlag, ein Anwalt, ein Geschäftsmann.” Du weißt, was passieren wird, wenn du dich selbst mit diesen Dingen identifizierst. Du wirst an ihnen kleben, du wirst dich sorgen, wenn sie auseinanderbrechen, und das ist es, wo das Leiden hereinkommt.

Das ist das, was ich zuvor gemeint habe, als ich dir sagte: „Wenn du leidest, schläfst du.”

Willst du einen Beweis dafür, dass du schläfst? Hier ist er: Du leidest.

Leiden ist ein Zeichen dafür, dass du von der Wahrheit entfernt bist. Leiden wird dir gegeben, damit du deine Augen für die Wahrheit öffnen mögest, damit du verstehen mögest, dass da irgendwo Falschheit ist, gerade so, wie dir körperlicher Schmerz gegeben wird, damit du verstehst, dass da irgendwo Krankheit oder Mangel ist. Leiden deckt auf, dass da irgendwo Falschheit ist. Leiden tritt auf, wenn du mit der Realität zusammenprallst. Wenn deine Illusionen mit der Realität zusammenprallen, wenn deine Falschheit mit der Wahrheit zusammenprallt, dann hast du Leiden.

Sonst gibt es kein Leiden.
(Anthony de Mello, SJ)  


Be am 15. August 2000 um 12:59