Normal ist egal

Wenn eine Fotografin über das banale Selfie hinausgekommen ist, ein Fotograf sich zum „engagierten Amateur” hochgearbeitet, ein bisschen was an Literatur konsumiert und den einen oder anderen Workshop besucht hat, dann beginnt für so jemanden unter all den anderen neuen Begriffen auch das „Normalobjektiv” herumzugeistern. Da würde man was lernen, wenn man das verwendet, heißt es (frau auch), es sei der Klassiker unter den Objektiven. Eine Festbrennweite verwenden, wird empfohlen, nicht herumzoomen (stattdessen das „Turnschuhzoom” verwenden, wird fälschlich von den Auskenner*innen empfohlen). Jede*r, der oder die etwas auf sich hält, muss erst einmal die „Normalbrennweite” meistern bevor man (oder frau) zu etwas Exotischerem greift, wird verlautbart. – Na ja.

Es ist schon nachvollziehbar, wie man zu der Vorstellung einer „Normalbrennweite” kommt, zumindest dann, wenn man an die Existenz der „idealen Betrachtungsentfernung” glaubt. Die, so heißt es, sei mehr oder weniger so groß wie die Diagonale des Bildes. Also bei 9 x 13 cm Bildgröße 16 cm, bei A4 36 cm, bei 30 x 40 cm 50 cm, bei 2 x 3 m 3,6 m und so weiter. Das sei die ideale Entfernung um das jeweilige Bild zu betrachten. (Das spielt dann wieder eine Rolle bei der nötigen Auflösung des Bildes.)
Das „Normalobjektiv” habe nun die Brennweite, bei der ein Bild in der „idealen Entfernung” betrachtet, so wirkt, wie die Szene an Ort und Stelle gewirkt hat. Abgesehen, von Wind und Wetter, Lärm oder Stille, Gerüchen und Gedanken, Gefühlen und überhaupt 95% der damaligen Welterkenntnis gewirkt hat. Optisch, perspektivisch.

Jetzt der Einschub zum „Turnschuhzoom”: Diese Empfehlung ist einfach nur falsch. Man kann eine Brennweite nicht durch Ändern der Aufnahmeentfernung ersetzen, denn das ist damit gemeint: Man möge einfach näher drangehen statt ein Tele zu verwenden, weiter weg statt ein Weitwinkelobjektiv hervorzuholen (oder sein Zoomobjektiv entsprechend einzustellen). Selbst wenn das möglich wäre und keine Hauswand den Rückzug beendet, kein Krokodil die Annäherung fragwürdig erscheinen lässt: Die perspektivische Abbildung wäre nicht die selbe. Diese hängt nämlich einzig und allein vom Abstand Kamera ↔ Motiv ab. (Wer’s nicht glaubt, soll’s ausprobieren: Eine Weitwinkelaufnahme beinhaltet die vom selben Standpunkt aus aufgenommene Teleaufnahme, von verschiedenen optischen Verzerrungen schlechterer Objektive abgesehen.) Näher dran sieht anders aus als weiter weg mit Tele. Ganz nah am Geschehen mit Weitwinkel ist nicht das selbe wie weiter weg mit „Normalbrennweite”.

Diese „Normalbrennweite” hat die selbe Länge wie die Diagonale des Aufnahmemediums: des Sensors oder des Negativs. Das Format, das heutzutage für voll genommen wird, während es früher klein war, das so genannte „Vollformat” (also das „Kleinbildformat”) hat eine Größe von 24 x 36 mm. Die „Normalbrennweite” für Kleinbild wäre nach dieser Regel ein bisschen mehr als 43 mm. (Verkauft wurde einem allerdings ein Objektiv mit 50 mm als „Normaloptik”.) Für FourThirds wären knappe 22 mm normal, für 6 x 6 ca. 85 mm. Länger wäre Tele, kürzer Weitwinkel, so sagen die, die einem das „Normalobjektiv” ans Herz legen.
Mir entspricht das nicht. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass mir die etwa doppelte „Normalbrennweite” normal vorkommt. Oft jedenfalls. Das „Normalobjektiv” erscheint mir dann schon als Weitwinkel. Es gibt Tage, da habe ich einen „Teleblick” und dann wieder solche, an denen mir das Weitwinkel ganz normal erscheint. Was also soll der Ausdruck „Normalobjektiv”? Normal ist veränderlich, normal ist langweilig, normal ist egal, normal ist lächerlich, normal gibt es gar nicht. Und das Allerschlimmste ist, da gibt es doch glatt Leute, die hervorragende Fotografien machen und nicht einmal wissen, was eine Brennweite überhaupt ist!
Normal wäre bei folgenden Bildern 22 mm Brennweite. Das Bild mit dem rotweißrotem Absperrband im Wald wäre also am normalsten:

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