Zeigt ein Foto die Wirklichkeit?

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Wirklich Wirklichkeit?

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Selbstverständlich! Schon allein, dass man eine Fotografie sehen kann, also eine Wirkung auf die Sehnerven des Betrachters vorhanden ist, bedeutet, dass sie zur Wirklichkeit gehört. (Und welche Wahrnehmung gehört denn nicht zur Wirklichkeit? – Illusionen? Sind diese denn nicht auch wirksam?) Jedes Foto wirkt, sonst würde man sich die Frage, ob es die Wirklichkeit zeigt, gar nicht stellen. Aber ob’s die Wirklichkeit zeigt? Die da draußen, die die Platoniker meinen? Ob es also ein weiterer Schatten an der Wand ist, ein Abbild der Wahrheit, die wir Wahrnehmungs-Gefesselten nicht sehen können? Oder ist es nur eine Fälschung, etwas, dass es gar nicht gibt?

Die Frage nach der Wirklichkeitstreue der Fotografie ist schon eine ganz eigene: Wer so fragt, muss daran glauben, dass Fotografie selbstverständlich eine illustrierende, darstellende Funktion hat. In der aktuellen Ausstellung „Real” der Fotogalerie Wien etwa werden künstlerische Positionen präsentiert, die sich „dokumentarisch” mit dem Thema „Lebensraum” auseinandersetzen. Dokumentation als Realitätsderivat?

Stellen wir die Frage nach der Wirklichkeit beispielsweise an Musik, dann wird’s schon viel subjektiver, die Urbedeutung von Wirklichkeit als Wirkung liegt wieder näher. Kein Mensch fragt ernsthaft, ob Goreckis 3. Symphonie eine Fälschung ist oder was sie eigentlich darstellt. Ob sie „in Wirklichkeit” gar nicht existiert. Musik darf für sich stehen und muss nichts anderes meinen. (Das würde ich mir auch für die Fotografie wünschen.)

Nicht nur, dass ein Blinder kein Licht sieht; wir alle müssen erst sehen lernen. Haben wir nicht gelernt, was ein Traktor ist, sehen wir keinen, d.h. nicht so, wie ihn eine_r sieht, der oder die Erfahrung mit Traktoren hat. Damit eine Wahrnehmung Sinn hat, verstanden werden kann, muss sie geordnet werden. Auch eingeordnet in die Vorstellungen, die sich bereits aus bisherigen Wahrnehmungen gebildet haben. Ohne diese Interpretation, dieses Verständnis, sind Sinneseindrücke bloße biochemische und -elektrische Ereignisse. So genannte Gegebenheiten sind nicht so allgemeingültig und neutral, wie man vielleicht geneigt ist anzunehmen. Sie sind interpretierte Sinneseindrücke, die auf andere Art vielleicht besser interpretiert werden könnten. Es gibt keine objektiven Gegebenheiten; das Subjekt spielt immer mit. Analog in der Fotografie: Was ich sehe, hat nicht nur mit der Welt, sondern auch mit mir zu tun. 1)
„The alien” – Ist dieses Foto echt?

„The alien” – Ist dieses Foto echt?

Nehmen wir also das uns Gezeigte nicht einfach als gegeben hin, dann erkennen wir, dass das, was wir wahrnehmen, nicht die einzige Wahrheit, die Wirkliche Wirklichkeit, ist und beginnen besser zu erkennen, was im Prozess der Wahrnehmung überhaupt vor sich geht. Das Wort Wahr-nehmung sagt bereits, dass eine Entscheidung eingeschlossen ist, ein Tun des Rezipienten. Sind wir uns dieses Interpretationsprozesses nicht bewusst, dann bedeutet das auch, ihm relativ hilflos ausgeliefert zu sein. Erkennen wir Wahrnehmung als etwas, das einer Geschichte folgt, dann werden auch andere Geschichten möglich. Again there is an alternative.
Ob überhaupt etwas da ist, wenn es niemand wahrnimmt, ist ein alter Streit in der Philosophie und Erkenntnistheorie. Die einen glauben, dass die Welt vollkommen unabhängig von Meinungen, Ansichten, Interpretationen, Wahrnehmungen existiert, wir sie zwar nicht ganz so, wie sie wirklich ist, wahrnehmen können, aber der (wissenschaftliche) Fortschritt eine immer genauere Annäherung Schritt für Schritt ermöglicht (Platonismus).
Die anderen sagen kategorisch, dass nichts existiert, was nicht wahrgenommen wird; wenn keiner hinschaut, ist der Mond nicht da (Konstruktivismus).
Was das alles mit Fotografie zu tun hat? – In der Kunst geht es immer um Erkenntnis und Wahrnehmung, um Transzendenz und Befreiung, und künstlerische Fotografie thematisiert nahezu unwillkürlich die Frage nach Wahrheit, Erkenntnisfähigkeit, Wahrnehmung und Wirklichkeit/Wirksamkeit.


1) Anmerkung 30. Nov. ’11: Christoph Spehr schreibt in „Gleicher als andere” (Seite 63, Fußnote 32): „Auch die herrschende Theorie und Konzeptualisierung von Erfahrung ist nichts anderes als Übersetzung und Bündnis. Wer sich wie BILD hinstellt und tönt »Lass dich nicht täuschen«, versucht das zu verschleiern. Wenn wir und in vollständiger Übereinstimmung mit den herrschenden Konzeptualisierungen befinden, glauben wir die Dinge zu sehen, »wie sie sind« – dabei ist das die eigentliche Ideologie.” 

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